Werner Skrentny: Ein Stadion ist ein Kulturdenkmal

»Es war einmal …«  –  so fangen in der Regel Märchen an. Und folgen wir dieser Regel weiter, dann gehen eben diese Geschichten immer gut aus. Wir wollen an dieser Stelle jedoch keine Märchen erzählen. Auch unsere Geschichten fangen mit »Es war einmal an«. Allerdings nehmen unsere Geschichten keinen guten Verlauf. Traurige Geschichten …
Wir reden mit Werner Skrentny über verschwundene Kultstätten des Fußballs. Der Autor weiß, worüber er spricht. Aus seiner Feder stammen »Das große Buch der deutschen Fußballstadien«, »Orte der Leidenschaft – der HSV und seine Stadien« oder »Es war einmal ein Stadion – verschwundene Kultststätten des Fußballs«.

Kabine: Hallo Herr Skrentny, ist ein Stadion ein Kulturdenkmal?

WS: Selbstverständlich! Als bauliches Zeugnis bestimmter Epochen, als Orientierungspunkt und Bestandteil des Stadtbilds, als historischer Ort. Und für viele Menschen Teil des Wochenendes, was sich wie allgemein bekannt aufgrund der Gelder des Pay-TV gravierend geändert hat. Ohne jegliche Rücksicht übrigens auf den Amateurfußball.

Kabjne: Denken wir an ehemalige Stadien: Der Zabo des 1. FC Nürnberg, heute eine Wohnsiedlung. Råsunda Fotbalsstadion – u. a. WM-Finale 1958, ein 17-jähriger Brasilianer namens Edson Arantes do Nascimento auf dem Weg zum Fußballruhm. Einfach abgerissen und heute eine nichtssagende Bürostadt. Wie nehmen Sie das wahr?

Verlust-Liste wird lang und länger

Das ehemalige Råsunda Stadion, abgerissen, November 2014

Råsunda Fotbollsstadion: Hier nahm die Karriere eines gewissen Pelé einen kometenhaften Verlauf …

WS: Wenn ich mein Buch »Es war einmal ein Stadion« als Blog fortschreiben würde, dann hätte ich wenigstens einen Tag pro Woche mit Beiträgen über abgerissene Stadien zu tun… Denn die Verlust-Liste wird lang und länger.
Im vergangenen November durfte ich in München bei einer internationalen Tagung von ICOMOS, dem deutschen Zweig des Internationalen Rats für Denkmalpflege, einen Vortrag zum Thema »Olympische Stadien als Wegwerfarchitektur« halten.

Abgesehen vom legendären White City Stadium in London (Olympische Spiele 1908/Abriss 1985) und Wembley mit den Twin Towers in derselben Stadt (1923, Abriss 2003) ist oft Leerstand zu vermelden. Ein Beispiel: Das Estadí Olímpic Liuís Companys in Barcelona auf dessen »Hausberg« Montjuic, Fassungsvermögen 55.000. Aber »Barca« und Espanyol besitzen eigene Spielstätten, also läuft dort nur noch ein »No-Name-Team« auf.
Solche Entwicklungen haben wir in Deutschland auch, Stichwort Olympiastadion München. Ein Baudenkmal, vielleicht als Bestandteil des Olympiaparks sogar einmal Weltkulturerbe, jedoch sportlich weitgehend leer stehend. Ein Schicksal, das auch dem Olympiastadion Berlin droht, wenn Hertha BSC auszieht. Es bleibt der Status als touristische Attraktion. Angeblich zählt das weitgehend fußballerisch ungenutzte »Vogelnest« von Peking, Ort der Olympischen Spiele 2008, heute mehr Besucherinnen und Besucher als der Kaiserpalast in der Hauptstadt der Volksrepublik China.

Erinnerungskultur inzwischen auch in Deutschland

Kabine: Das Stadion De Meer von Ajax Amsterdam wurde ebenfalls durch eine Wohnsiedlung ersetzt, aber immerhin wurden die Spieler der großen Ajax-Teams der frühen 70er in Form von Brückennamen in diesem neuen Viertel geehrt.

WS: Glücklicherweise gibt es diese Erinnerungs-Kultur wie in Großbritannien und den USA punktuell inzwischen auch in Deutschland. So beim Bökelberg in Mönchengladbach und im Neubaugebiet anstelle des alten Tivoli Aachen mit der Integrierung des »Würselener Wall« bzw. Straßenamen »An der Haupttribüne« oder »Alemannenstraße«. Auch an Herthas »Plumpe« im Stadtteil Gesundbrunnen in Berlin erinnern vier, wenn auch umstrittene Denkmale.
Den Ort des ersten Endspiels um die Deutsche Fußball-Meisterschaft 1903 im Industriegebiet von Hamburg-Bahrenfeld hat im Übrigen die private Initiative 1903 mit einem Gedenkstein markiert. Dafür ein großes Dankeschön! (www.initiative1903.com).

Stadion Rothenbaum: Keine Erinnerung an Fußball

Aber, um in meiner Heimatstadt Hamburg zu bleiben: Wer den Ort des Stadions Rothenbaum aufsucht, in dem der HSV über Jahrzehnte große Erfolge feierte, wird dort keinerlei Hinweis auf Fußballgeschichte vorfinden. Stattdessen sind in der nahen U-Bahn-Station Tennisspieler verewigt (das Gegenbeispiel: U-Bahnhof St. Pauli/FC St. Pauli).
Immerhin hat Deutschland bei den Fußball-Denkmälern »aufgeholt«. Dank des vom Autoverleiher Andreas Maske finanzierten Walk of Fame samt Uwe Seeler-Fuß beim Hamburger Volksparkstadion. Und mit Monumenten für die »Helden von Bern« auf dem Betzenberg von Kaiserslautern, für Toni Turek in Düsseldorf, Helmut Rahn in Essen, Max Morlock in Nürnberg u. a. m..

 

Kabine: Wie nehmen Sie generell den Trend war, Stadien als austauschbare und wahrscheinlich modulare Funktionsarenen zu bauen? Mit individueller Architektur hat das sicherlich nicht mehr viel zu tun.

Stadion Düsseldorf

Stadion-Frevel in Düsseldorf …

WS: Ich meine, Bochums damaliges Ruhrstadion war 1979 durch den Umbau das erste, das zu einem reinen Fußballstadion umfunktioniert wurde. Gelungen, wie ich finde. Zum Leidwesen der Leichtathletik wurde dies zum Trend. Es gibt kaum noch Stadien mit Laufbahn und anderen dieser Sportart entsprechenden Anlagen.

Architektonisch gibt es sicherlich einige Ausrufezeichen hinsichtlich deutscher Stadionbauten. Ich nenne München, Frankfurt, Köln, Dortmund, auch wegen der Atmosphäre und der »Gelben Wand«. Spielstätten wie in Paderborn oder Wiesbaden kann ich nun gar nichts abgewinnen. Mein Kollege Dietrich Schulze-Marmeling schuf dafür den Begriff »C & A Stadien«. Einen unbedingten Frevel bedeutet auch die Düsseldorfer Stadion-Geschichte. Erst das Rheinstadion als bauliches Zeugnis der 1920er Jahre. 
Dann der Neubau zur Fußball-WM 1974: Hufeisenförmig, mit dem Blick zum Rhein. Eine Architektur, die hoch gelobt wurde. Schließlich ersetzt durch eine Art Mehrzweckhalle, ursprünglich ohne Stehplätze.

Kabine: Früher war Fußball Stadionwurst und bei Wind und Wetter auf den Stehplätzen. Heute ist es mehr Komfort und man kann sich sogar in VIP-Logen laben. Dazu gehört, dass sich das Publikum gewandelt hat. Bleibt da irgendwann der Sport auf der Strecke? Wie sieht für Sie das ultimative Stadion aus?

WS: Fußball wird nach wie vor gespielt, es gibt allerorten weiterhin die Stadionwurst und glücklicherweise auch Stehplätze (im Gegensatz zur britischen Premiere League). Ich war dieser Tage regelrecht entsetzt, als ich in der »FAZ« vom 8.3.2020 von Frau Evi Simeoni, die sich sonst vor allem um Dressurreiten, Rudern u. a. mehr kümmert, einen Kommentar zu den Fan-Protesten las. Titel: »Der Spießer macht Krawall.« Frau Simeoni echauffierte sich über »alberne Choreographien«, »sogenannte Fans«, »einen aufgeblasenen Haufen Spießer im Gruppenrausch« und schloss mit dem Fazit: Stehplätze abschaffen! Übersehen hat die »FAZ«-Redakteurin dabei, dass sich »die Kurve« vielfältig gegen demokratiefeindliche Entwicklungen engagiert und sich sehr um die Aufarbeitung der Vereinsgeschichte z. B. in der NS-Zeit kümmert. Ohne Fans, ohne Stehplätze, wie es die »FAZ« fordert: Dann gute Nacht Bundesliga-Fußball …

Man hat, dies ein Grund auch der Proteste, zu viele Ausnahmen geduldet: VW-Wolfsburg, Bayer Leverkusen, »Hoppenheim« und vor allem »Red Bull« Leipzig.
Erfreut hat mich dagegen der Aufstiegs-Verzicht des 1970 gegründeten SV Rödinghausen, Meister der Regionalliga West (4. Liga): Einwohnerzahl der ostwestfälischen Gemeinde 10.000, Fassungsvermögen Stadion 3.140, Zuschauerschnitt knapp über 1.000. Man vergleiche dies mit Rot-Weiß Essen! Ich hatte bereits befürchtet, da peilt – mit Unterstützung eines Küchenherstellers – ein weiterer Dorfklub die Bundesliga an …

Natürlich hat sich das Publikum gewandelt und das wird sich auch nicht mehr ändern. Fußball ist Event, zumal die Medien dieser Sportart übermäßig viel Raum einräumen. Die Zuschauer-Resonanz ist heutzutage völlig unabhängig von Ergebnissen, Tabellenstand und Spielweise. In den meisten Stadien sind die Eintrittspreise noch erschwinglich; das sollte unbedingt so bleiben. Die Leute aus den VIP-Logen, die zu spät zum Wiederanpfiff kommen, weil sie noch Sushi auf dem Teller oder einen Schluck Prosecco im Glas haben, sind eine Minderheit und spielen im Gegensatz zu den historisch und politisch sehr engagierten »Kurven« keine Rolle.
Reine Fußball-Stadien, dies ist der Trend. Wer noch keines hat, wird sich eines bauen lassen. Das wirft wie erwähnt Fragen nach der Zukunft in Berlin oder auch in Nürnberg auf.

 

Fußballerisch sozialisiert im Brötzinger Tal (1. FC Pforzheim)

Kabine: Welches ist Ihr Lieblingsstadion?

Stadion Brötzinger Tal, Pforzheim, Tribüne, 2011

Stadion Brötzinger Tal, Tribüne, Archivfoto, Mai 2011

WS: Das ist eine Leidensfrage. Fußballerisch sozialisiert wurde ich beim 1. FC Pforzheim, dem nordbadischen Traditionsverein aus dem Endspiel um die Deutsche Meisterschaft 1906. Auch in der Regionalliga Süd, damals zweithöchste Klasse, u. a. 1963 bis 1965 in Punktspielen gegen Bayern München (!) dabei. Den 1896 gegründeten 1. FCP, genannt »der Club«, gibt es nicht mehr. Er heißt nun 1. CfR Pforzheim (5. Liga).

Das Stadion Brötzinger Tal (seit 1913) wurde auf ein Fassungsvermögen von 4.500 reduziert (ehemals 9.000 bis 17.000) und zwecks Modernisierung wurde eine der ältesten Stahlrohr-Tribünen Deutschlands abgerissen. Die Farben der Stadt sind blau-weiß, es waren auch die des »Club«, und so sind die Sitze der neuen Haupttribüne, die sehr artifiziell ausschaut, auch koloriert. Jedoch: die Gegengerade, stets Stehplatz-Terrain, besitzt nun rote Sitzschalen. Weil einer der Sponsoren die Kreissparkasse Pforzheim-Calw ist, die diese Farben favorisiert. Eingeplant ist beim Neubau auch ein VIP-Bereich. Der könnte nach einem möglichen Abstieg auch in der 6. Liga gelten.

Die Adolf-Jäger-Kampfbahn ist Kult

»Ist doch ein geiler Verein« Altona 93Und die Frage nach dem Lieblingsstadion? Erst einmal nächste Woche nachsehen, welche Spielstätte schon wieder abgerissen wurde …

Denn auch das klassische Fußball-Stadion des Rheydter SpV, genannt »Spöck«, in Mönchengladbach wird verschwinden. Die Stuttgarter Kickers auf der Waldau besitzen die älteste deutsche Spielstätte. Deshalb, trotz aller Veränderungen, einen Besuch wert. Victoria Hamburg in meiner Nachbarschaft hat teils noch die ursprünglichen Ausmaße. Ehemals fasste das Stadion Hoheluft 35.000 Besucherinnen und Besucher, und es war Austragungsort von Länderspielen. Die Tribüne stammt aus dem Jahr 1922. Leider wurde die Anlage aufgrund einer Teilnahme in der 4. Liga durch Polizei-Überwachungs-Container, Zäune, Blockteilung etc. verunstaltet.

Da ich in Hamburg lebe, gehört die »Adolf-Jäger-Kampfbahn« von Altona 93 zu den »Kult-Stadien«. Doch wird auch dieses Stadion über kurz oder lang verschwinden. Für das »Millerntor-Stadion« des FC St. Pauli spricht die Lage inmitten der Stadt und beim Kiez. 
Bliebe die »Alte Försterei« von Union Berlin. Aber da besteht meinerseits noch Nachholbedarf.

 

 

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